1, 2, 3 und stecken bleiben: 1000 Serpentinen Angst am Gorki Theater

Serie: Schwarze Kulturschaffende 

Eine Rezension von Dr. Dr. Daniele Daude

 

Olivia Wenzels „1000 Serpentinen Angst“ stellt Ereignisse dar, die sich in ihren Häufungen und (nicht)Verarbeitungen zu Dramen und Traumata von 3 weiblich sozialisierten Generationen führen. Es könnte sich um folgende Geschichte handeln: Im Zentrum steht die Hauptfigur „ICH“, die Enkelin, Schwarz, Queer, Ost-Deutsche, selbstbezogen, selbstzerstörerisch, kurz: stark mit sich selbst beschäftigt. Ihre Mutter „Susanne“, weiß, nicht-normativ, wächst voller Unzufriedenheit und Frustration auf. Sie gerät bereits im frühen Alter in Konflikt mit ihrem Umfeld, ihrer Mutter. Sie sucht nach Auswegen, doch keiner davon führt raus. Also geht sie widerwillig zurück. Dorthin, wo sie eigentlich nicht hin möchte. Die Großmutter mit Kriegserfahrung wollte schon immer weg. Stewardess werden, die Welt bereisen, doch sie blieb stecken. Ihre Trauer, ihre Frustration, ihre nicht geäußerte Wut leitet sie an die nächsten Generationen weiter. Keine der drei Figuren kommt raus aus den eigenen und vererbten emotionalen Sümpfen. 

Doch in Wenzels Roman geht es weniger um eine linear aufgetragene Geschichte als vielmehr um die Darstellung von Zuständen in einer bildhaften Sprache. Die inneren Dialoge, die chorische Erzählung und die szenenhaften Bilder eignen sich paradigmatisch für eine Theatervorlage. Und hier beginnt die Theaterarbeit: welche Zusammenhänge, Ästhetik, Narrationen werden auf der Bühne hergestellt? Wer sind die Figuren auf der Bühne? Wie tragen Schauspieler*innen die Narration? Wirft diese Inszenierung Fragen auf? Und wenn ja, welche? 

Die Inszenierung 

Theateradaptionen von Romanen sind nicht anhand ihrer Treue zum literarischen Text zu erfassen – deshalb werden Alexandre Dumas Dame aux Camelias nicht mit Verdis La Traviata „verglichen“. Als unterschiedliche Kunstformen unterliegen Romane und Theater verschiedenen Zwängen, verschiedenem Aufbau und auch unterschiedlichen Rezeptions- und Interpretationsgeschichten. Für performative Künste wie Tanz, Oper, Kabarett, Stand up etc. rücken Fragen nach den Darstellungen, dem Theatererlebnis, der Ästhetik, der Bild- und Körpersprache in den Vordergrund: was wird auf der Bühne dargestellt? Wer verkörpert was, wann und wie? Wie entstehen die Bilder auf der Bühne? Welche Interaktionen mit Zuschauenden finden statt? 

Zur Eröffnung ist die Bühne leer. Musik erklingt kurz darauf, in einer Lautstärke, an der Grenze der Boxen und des Erträglichen. Massive Bässe in binären Rhythmen kollidieren mit den mittleren ternären Stimmen, während Gesang und die hintere Wand langsam hochgezogen wird. Zwei Kinder überqueren die Bühne. Sie spielen, kreischen und tragen viel zu große Stöckelschuhe für Erwachsene. Als die Kinder wieder verschwinden, entsteht das erste Bild: ein sieben-stimmiger Chor tritt auf. Alle Figuren verteilen sich auf der Bühne und bleiben stehen. In diesem „Tableau vivant“ sprechen alle schnell, abwechselnd und ohne Kontakt zueinander. Sie stellen innere widersprüchliche Stimmen dar. Es sind keine Dialoge, sondern Emotionen, Zustände und Fragen, jedoch nicht aufeinander bezogen oder aufeinander reagierend. Dabei ragt eine mittige Farblinie heraus: die Stimme „Wo bist Du“, ICH und Kim mit ihren grellen Farben jeweils in blau, gelb und grün. Allmählich übernehmen einzelne Chorfiguren eine bestimmte Rolle im Bühnengeschehen: der Vater (Falilou Seck), die Mutter (Ariane Andereggen), die Freundin Kim (Hanh Mai Thi Tran), „die Stimme in blau“ (Abak Safaei-Rad), der white dude (Tim Freudensprung) und die Hauptfigur ICH (Shari Asha Crosson). Von allen Figuren tritt nur „die Stimme in blau“ in direktem Kontakt zu ICH auf. Hier finden die einzigen Dialoge statt, innig und emotional. Ängste und Zweifel kommen dort ständig hoch bis zur kompletten Verwischung und dem Austausch der Rollen: ICH und ihre Doppelgänger*in.  

Text und Theater 

Nach Abgang des Chors folgen Abschnitte in kleinerer Besetzung: Es geht um Kindheit, unverarbeitete Traumata, um Ängste, um gescheiterte Liebesgeschichten, um Dialoge, die keine sind. Um die schwierige Mutter-Tochter-Beziehung, um Geschwisterliebe und um Selbstmord. Die Reihenfolge ist dabei irrelevant. Im Zentrum stehen Situationen und Zustände, allerdings in einer sehr logozentrierten Erzählweise. Wer den Roman kennt, wird viele Stellen erkennen, die eins zu eins übernommen worden sind. Dies eröffnet die Frage nach der Funktion des Textes in einer Theateraufführung. Ist der Text der eigentliche Hauptdarsteller, nachdem sich alle theatralen Elemente zu richten haben? Oder ist der Text Teil eines theatralen Komplexes mit Schauspieler*innen, Bühnenbild, Kostümen und Licht, die alle gemeinsam eine Geschichte erzählen? Welche Wege gäbe es außerhalb der Binarität „Narration versus Abstraktion“, zwischen „Dramatik versus Postdramatik“ zwischen „Text versus Theater“? 

Abgesehen von den Übergängen, wofür Musik und Projektionen eingesetzt werden, fallen drei Passagen auf, die mit dem Logozentrismus der Inszenierung brechen: Der Selbstmord des Bruders (Moses Leo), der Tanz der Geschwister und die Darstellung der drei Frauen*Generationen als Jugendliche. Selbstmord auf der Bühne darzustellen, ist eine heikle Angelegenheit. Wie alle ernsten Themen, die auf Bühnen behandelt werden, können sie schnell kippen, komplett das Ziel verfehlen, extrem plakativ oder gar lächerlich werden. 

Hier wird der Tod des Bruders (Moses Leo) mit einem querliegenden Riesenrohr dargestellt, das sich in Zeitlupe erhebt. Der Schauspieler Moses Leo bewegt sich dabei langsam und bricht erst am Ende mit dieser Langsamkeit abrupt ab, indem er vom Rohr nach hinten springt. Die Beleuchtung vermittelt hier den Eindruck, einem irrealen Schattenspiel in Sonnendämmerung beizuwohnen: still, langsam und lautlos. Der zweite Moment ist der „Tanz der Geschwister“. Beide tanzen zusammen in parallelen Bewegungen am schräg liegenden Rohr im hinteren Bühnenbereich vorbei. Ein sehr poetisches Bild, wo Liebe und Zusammenhalt der Geschwister, aber auch deren unterschiedliche Positionen in Raum und Zeit, ersichtlich werden. Ein starker Moment der Präsenz und der Korporalität, choreographiert von Jeremy Nedd und Shari A. Crosson. Der letzte Moment ist die Inszenierung der drei Frauen*Generationen ICH, der Mutter Susanne und der Oma als Kind/Jugendliche. Die drei treten tanzend auf und verstärken somit tautologisch die transgenerationelle Wiederholung.

Für eine Bildsprache sorgt das minimalistische Bühnenbild von Marta Dyachenko, bestehend aus Leinwänden und einem Riesenrohr, hängend und auf der Drehbühne, sowie die grauen schwarz/weiß motivischen Projektionen und Animationen. In diesem Kontext ragen die grellen Kostüme von Paula Kardum gut heraus und betonen die Diskrepanz zwischen Figuren und ihrem Umfeld noch mehr.  

Shari Asha Crosson in der Hauptrolle ICH liefert hier eine beträchtliche Leistung, denn viele Inhalte sind auf die ICH-Figur verlagert. Von dem über zweistündig langen Theaterabend trägt Crosson die meisten Texte, Bewegungsabläufe und die extreme emotionale Darstellung. Dazu noch Beatboxen, Sprünge, Schreie, Tanz, kurz: Crosson trägt den Theaterabend. Performativ und inszenatorisch. Und diese inszenatorische Entscheidung fällt umso mehr auf, da das Potential und die Multidimensionalität des Chors nicht in Anspruch genommen wird. Auch die Wahl einer massiven textzentrierten Erzählweise im Theater ist fraglich. 

Zu den anfangs gestellten Fragen also: auf der Bühne werden Abschnitte präsentiert, die      verschiedene Zustände und Situationen darstellen. Die Narration wird bis auf drei Stellen überwiegend textlich getragen. Die Figuren entpuppen sich als konkrete (wenn auch nicht immer reale) Bezugspersonen zum ICH. Die Zeiten werden hier verwischt und vermischt, genauso wie sie in Erinnerungen auftreten. Allein „die Stimme in blau“-Doppelgängerin von ICH, tritt in Dialog mit ihr. So sehr, dass sie für eine Zeit die Rollen tauschen. Wenn aber ICH und „die Stimme in blau“ Rollen tauschen, wer wird dann ICH und wie kann es existieren? 

„1.000 Serpentinen Angst“ am Gorki Theater ist die erste Theaterinszenieruung des Romans von Olivia Wenzel, womit eine Interpretationsgeschichte des Stückes beginnen kann. Eine weitere Inszenierung feierte am 10. Dezember 2021 am Staatstheater Hannover seine Premiere. Die Arbeit von Miriam Ibrahim mit Sabrina Ceesay, Minh Duc Pham und Nicolas Matthews stellt von der Besetzung, der Ästhetik und dem künstlerischem Ansatz eine komplett andere Welt dar. 

“1000 Serpentinen Angst” am Staatstheater Hannover

 

Mit 

Shari Asha Crosson (ICH)
Abak Safaei-Rad (Stimme)
Moses Leo (Bruder)
Hanh Mai Thi Tran (Kim)
Ariane Andereggen (Mutter)
Falilou Seck (Vater)
Tim Freudensprung (White Dude)

 

MITARBEIT KONZEPT & FASSUNG/CO-REGIE
Hieu Hoang

CHOREOGRAFIE/CO-REGIE
Jeremy Nedd, Joana Tischkau

BÜHNE
Marta Dyachenko

SOUNDDESIGN
Frieder Blume

KOSTÜME
Pola Kardum

DRAMATURGIE
Valerie Göhring

REGIE
Anta Henlena Recke